Rechtssache C-208/00.
In der Rechtssache C-208/00 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel
234 EG vom Bundesgerichtshof (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen
Rechtsstreit
Überseering BV
gegen
Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel
43 EG und 48 EG
erlässt der Gerichtshof ... folgendes Urteil
Entscheidungsgründe
1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. März 2000, bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 25. Mai 2000, gemäß Artikel
234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 43 EG und 48 EG zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Überseering
BV (im Folgenden: Überseering), einer am 22. August 1990 in das Handelsregister
von Amsterdam und Haarlem eingetragenen Gesellschaft niederländischen
Rechts, und der Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (im Folgenden:
NCC), einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, über die Beseitigung
von Mängeln bei der Ausführung von Bauarbeiten in Deutschland, mit der
Überseering NCC beauftragt hatte.
Nationales Recht
3 Nach der ZPO ist die Klage einer Partei, die nicht parteifähig ist,
als unzulässig abzuweisen. Nach § 50 Absatz 1 ZPO ist parteifähig, wer
rechtsfähig ist, d. h. die Fähigkeit besitzt, Träger von Rechten und
Pflichten zu sein; dies gilt auch für Gesellschaften.
4 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der die
herrschende Lehre in Deutschland folgt, beurteilt sich die Frage, ob
eine Gesellschaft rechtsfähig ist, im Gegensatz zur Gründungstheorie,
nach der sich die Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Staates bestimmt,
in dem die Gesellschaft gegründet worden ist, nach demjenigen Recht,
das am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (Sitztheorie).
Dies gilt auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem anderen Staat wirksam
gegründet worden ist und anschließend ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in die Bundesrepublik Deutschland verlegt.
5 Eine solche Gesellschaft kann, soweit ihre Rechtsfähigkeit nach deutschem
Recht zu beurteilen ist, weder Träger von Rechten und Pflichten noch
Partei in einem Gerichtsverfahren sein, es sei denn, sie gründet sich
in der Bundesrepublik Deutschland in einer Weise neu, die zur Rechtsfähigkeit
nach deutschem Recht führt.
Ausgangsrechtsstreit
6 Im Oktober 1990 erwarb Überseering ein Grundstück in Düsseldorf, das
sie gewerblich nutzte. Mit Generalübernehmervertrag vom 27. November
1992 beauftragte Überseering NCC mit der Sanierung eines Garagengebäudes
und eines Motels, die auf diesem Grundstück befinden. Die Leistungen
sind erbracht, Überseering macht aber Mängel der Malerarbeiten geltend.
7 Im Dezember 1994 erwarben zwei in Düsseldorf wohnhafte deutsche Staatsangehörige
sämtliche Geschäftsanteile an Überseering.
8 Nachdem Überseering NCC vergeblich aufgefordert hatte, die festgestellten
Mängel zu beseitigen, verklagte sie 1996 NCC aus dem zwischen beiden
bestehenden Generalübernehmervertrag beim Landgericht Düsseldorf auf
Zahlung von 1 163 657,77 DM zuzüglich Zinsen als Ersatz der Kosten der
Beseitigung der angeblichen Mängel und der Folgeschäden.
9 Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf
wies die Berufung zurück. Nach seinen Feststellungen hatte Überseering
aufgrund des Erwerbs ihrer Geschäftsanteile durch zwei deutsche Staatsangehörige
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Es vertrat
die Ansicht, dass Überseering als Gesellschaft niederländischen Rechts
in Deutschland nicht rechtsfähig und demnach auch nicht parteifähig
sei.
10 Das Oberlandesgericht hielt die Klage von Überseering daher für unzulässig.
11 Überseering legte gegen dieses Urteil des Oberlandesgerichts Revision
beim Bundesgerichtshof ein.
12 Aus den Erklärungen von Überseering ergibt sich ferner, dass sie
parallel zum derzeit beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren nach
nicht näher bezeichneten sonstigen deutschen Rechtsvorschriften bei
einem deutschen Gericht verklagt wurde. So sei sie vom Landgericht Düsseldorf
- wahrscheinlich aufgrund ihrer Eintragung vom 11. September 1991 in
das Grundbuch Düsseldorf als Eigentümerin des Grundstücks, auf dem das
Garagengebäude und das Motel stünden, die NCC saniert habe, - verurteilt
worden, Architektenhonorare zu begleichen.
Vorlagefragen
13 Der Bundesgerichtshof stellt fest, dass seine in den Randnummern
4 und 5 dieses Urteils dargelegte Rechtsprechung in unterschiedlicher
Hinsicht von einem Teil des deutschen Schrifttums abgelehnt werde, hält
es aber aus verschiedenen Gründen für vorzugswürdig, beim derzeitigen
Stand des Gemeinschaftsrechts und des Gesellschaftsrechts innerhalb
der Europäischen Union daran festzuhalten.
14 Zunächst seien alle Lösungsansätze abzulehnen, bei denen durch Berücksichtigung
unterschiedlicher Anknüpfungspunkte die Rechtsstellung einer Gesellschaft
nach mehreren Rechtsordnungen beurteilt werde. Solche Lösungsansätze
führten zu Rechtsunsicherheit, weil sich die Regelungsbereiche, die
verschiedenen Rechtsordnungen unterstellt werden sollten, nicht eindeutig
voneinander abgrenzen ließen.
15 Ferner komme die Anknüpfung an den Ort der Gründung den Gründern
der Gesellschaft entgegen, die gleichzeitig mit dem Gründungsort die
ihnen genehme Rechtsordnung wählen könnten. Hierin liege die entscheidende
Schwäche der Gründungstheorie, die vernachlässige, dass die Gründung
und Betätigung einer Gesellschaft auch die Interessen dritter Personen
und des Staates berührten, in dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz
befinde, sofern dieser sich in einem anderen Staat als demjenigen befinde,
in dem die Gesellschaft gegründet worden sei.
16 Demgegenüber könne durch die Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz
verhindert werden, dass die gesellschaftsrechtlichen Vorschriften des
Staates des tatsächlichen Verwaltungssitzes, mit denen bestimmte grundlegende
Interessen geschützt werden sollten, durch eine Gründung im Ausland
umgangen würden. Im vorliegenden Fall wolle das deutsche Recht u. a.
die Interessen der Gläubiger der Gesellschaft schützen. Die Rechtsvorschriften
über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) gewährten diesen
Schutz durch detaillierte Regelungen über die Einzahlung und Erhaltung
des Gesellschaftskapitals. Schutzbedürftig seien weiter bei Verbindungen
von Unternehmen auch die abhängigen Gesellschaften und deren Minderheitsgesellschafter;
diesem Schutz dienten in Deutschland u. a. die Regeln des Konzernrechts
oder bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen die Regeln zur
Entschädigung und zur Abfindung der durch diese Verträge benachteiligten
Gesellschafter. Dem Schutz der von der Gesellschaft beschäftigten Arbeitnehmer
dienten schließlich die Vorschriften über die Mitbestimmung. Vergleichbare
Regelungen bestünden nicht in allen Mitgliedstaaten.
17 Für den Bundesgerichtshof stellt sich jedoch die Frage, ob bei der
grenzüberschreitenden Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
nicht die in den Artikeln 43 EG und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit
der Anknüpfung der Rechtsstellung der Gesellschaft an das Recht des
Mitgliedstaats, in dem sich ihr tatsächlicher Verwaltungssitz befindet,
entgegensteht. Die Beantwortung dieser Frage kann nach seiner Ansicht
der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht eindeutig entnommen werden.
18 In seinem Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 81/87
(Daily Mail and General Trust, Slg. 1988, 5483) habe der Gerichtshof
ausgeführt, dass Gesellschaften von ihrer Niederlassungsfreiheit durch
Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften
sowie dadurch Gebrauch machen könnten, dass sie ihr Kapital vollständig
auf eine in einem anderen Mitgliedstaat neu gegründete Gesellschaft
übertrügen; auch habe er festgestellt, dass Gesellschaften im Gegensatz
zu natürlichen Personen jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre
Gründung und ihre Existenz regele, keine Realität hätten. Aus diesem
Urteil gehe ferner hervor, dass der EG-Vertrag die Unterschiedlichkeit
der nationalen Kollisionsregeln hingenommen und die Lösung der damit
verbundenen Probleme zukünftiger Rechtsetzung vorbehalten habe.
19 Im Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros,
Slg. 1999, I-1459) habe der Gerichtshof die Weigerung einer dänischen
Behörde beanstandet, die Zweigniederlassung einer im Vereinigten Königreich
wirksam gegründeten Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen.
Der Bundesgerichtshof weist jedoch darauf hin, dass diese Gesellschaft
nicht ihren Sitz verlegt habe, da sich von der Gründung an der satzungsmäßige
Sitz im Vereinigten Königreich und der tatsächliche Verwaltungssitz
in Dänemark befunden hätten.
20 Der Bundesgerichtshof fragt sich angesichts des Urteils Centros,
ob die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit
bei einem Sachverhalt wie im Ausgangsverfahren dann der Anwendung der
Kollisionsregeln entgegenstehen, die in dem Mitgliedstaat gelten, in
dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz einer in einem anderen Mitgliedstaat
wirksam gegründeten Gesellschaft befindet, wenn diese Kollisionsregeln
zur Folge haben, dass in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit der
Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit zu dem Zweck, dort Ansprüche
aus einem Vertrag geltend zu machen, nicht anerkannt wird.
21 Der Bundesgerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass es im Widerspruch
zur Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften steht, wenn die Rechtsfähigkeit
und die Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines
Mitgliedstaats wirksam gegründet worden ist, nach dem Recht des Staates
beurteilt werden, in den die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
verlegt hat, und wenn sich aus dessen Recht ergibt, dass sie vertraglich
begründete Ansprüche dort nicht mehr gerichtlich geltend machen kann?
2. Sollte der Gerichtshof diese Frage bejahen:
Gebietet es die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften (Artikel 43
EG und 48 EG), die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit nach dem
Recht des Gründungsstaats zu beurteilen?
Zur ersten Vorlagefrage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob
es gegen die Artikel 43 EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft,
die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren
satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in diesen verlegt hat, dort die Rechtsfähigkeit und
damit die Parteifähigkeit vor den nationalen Gerichten für das Geltendmachen
von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen
Gesellschaft abgesprochen wird.
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
23 Nach Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der
italienischen Regierung verstößt es nicht gegen die Bestimmungen des
EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, wenn die Rechtsfähigkeit
und die Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats wirksam
gegründeten Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats,
in den sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt haben soll, beurteilt
werden und die Gesellschaft gegebenenfalls in diesem anderen Mitgliedstaat
Ansprüche aus einem Vertrag mit einer dort ansässigen Gesellschaft nicht
gerichtlich geltend machen kann.
24 Zum einen stützen sie sich auf Artikel 293 Absatz 3 EG, der bestimmt:
"Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedstaaten untereinander Verhandlungen
ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen Folgendes sicherzustellen:
...
- die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften im Sinne des Artikels
48 Absatz 2, die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung
des Sitzes von einem Staat in einen anderen ..."
25 Nach Auffassung von NCC liegt Artikel 293 EG die von allen Mitgliedstaaten
getragene Erkenntnis zugrunde, dass eine in einem Mitgliedstaat gegründete
Gesellschaft bei Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat
ihre Rechtspersönlichkeit nicht ohne weiteres beibehält, sondern dass
es hierzu eines gesonderten - bisher nicht geschlossenen - Übereinkommens
der Mitgliedstaaten bedarf. Der Verlust der Rechtspersönlichkeit einer
Gesellschaft bei Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen
anderen Mitgliedstaat sei daher mit den Gemeinschaftsvorschriften über
die Niederlassungsfreiheit vereinbar. Die Weigerung eines Mitgliedstaats,
die ausländische Rechtspersönlichkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in sein Hoheitsgebiet verlegt habe, stelle keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
dar, da diese Gesellschaft die Möglichkeit habe, sich nach dem Recht
dieses Mitgliedstaats neu zu gründen. Die Niederlassungsfreiheit schütze
allein das Recht, sich in diesem Mitgliedstaat neu zu gründen oder Niederlassungen
zu errichten.
26 Nach Meinung der deutschen Regierung haben die Verfasser des EG-Vertrags
die Artikel 43 EG und 48 EG in voller Kenntnis der großen Unterschiede
zwischen den Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten und mit der Absicht
in den Vertrag aufgenommen, die nationale Zuständigkeit und die Maßgeblichkeit
des nationalen Rechts fortbestehen zu lassen, solange keine Rechtsangleichung
erfolgt sei. Zwar gebe es zahlreiche auf der Grundlage des Artikels
44 EG erlassene Harmonisierungsrichtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts;
für die Sitzverlegung stehe eine solche Richtlinie noch aus, und es
sei auch noch kein multilaterales Übereinkommen gemäß Artikel 293 EG
auf diesem Gebiet geschlossen worden. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts
seien die Anwendung der Theorie des wahren oder tatsächlichen Verwaltungssitzes
in Deutschland und ihre Auswirkung auf die Anerkennung der Rechtsfähigkeit
und der Parteifähigkeit von Gesellschaften mit dem Gemeinschaftsrecht
vereinbar.
27 Auch nach Ansicht der italienischen Regierung zeigt die Tatsache,
dass Artikel 293 EG den Abschluss von Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten
vorsieht, um u. a. sicherzustellen, dass eine Gesellschaft bei Verlegung
des Sitzes von einem Staat in einen anderen ihre Rechtspersönlichkeit
beibehält, dass die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit
nach Verlegung des Gesellschaftssitzes nicht durch die Vorschriften
des Gemeinschaftsrechts über die Niederlassungsfreiheit geklärt worden
ist.
28 Die spanische Regierung weist darauf hin, dass das am 29. Februar
1968 in Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung
von Gesellschaften und juristischen Personen nie in Kraft getreten sei.
Mangels eines von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Artikels
293 EG geschlossenen Übereinkommens bestehe daher keine Harmonisierung
auf Gemeinschaftsebene, die die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit
einer Gesellschaft im Fall der Sitzverlegung entscheiden könnte. Die
Artikel 43 EG und 48 EG enthielten nichts in dieser Hinsicht.
29 Ferner machen NCC sowie die deutsche, die spanische und die italienische
Regierung geltend, ihre Analyse werde durch das genannte Urteil Daily
Mail and General Trust gestützt, insbesondere durch dessen Randnummern
23 und 24:
"... der EWG-Vertrag [betrachtet] die Unterschiede, die die Rechtsordnungen
der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen
Anknüpfung sowie der Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten
einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft
nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen,
als Probleme, die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit
nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder
des Vertragsschlusses bedürfen; eine solche wurde jedoch noch nicht
gefunden.
Somit gewähren die Artikel 52 [EWG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel
43 EG)] und 58 EWG-Vertrag [jetzt Artikel 48 EG] den Gesellschaften
nationalen Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter
Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer
Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen."
30 Die deutsche Regierung ist der Ansicht, das Urteil Daily Mail and
General Trust betreffe zwar die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft
und dem Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden sei, in
dem Fall der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser Gesellschaft
in einen anderen Mitgliedstaat; die Erwägungen des Gerichtshofes in
diesem Urteil seien aber auf die Frage nach den Beziehungen zwischen
einer in einem Mitgliedstaat wirksam gegründeten Gesellschaft und einem
anderen Mitgliedstaat, in den sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
verlege (dem Aufnahmestaat im Gegensatz zum Staat der Gründung der Gesellschaft),
übertragbar. Auf dieser Grundlage trägt sie vor, wenn eine in einem
ersten Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft von ihrem Niederlassungsrecht
in einem anderen Mitgliedstaat durch Abtretung aller ihrer Geschäftsanteile
an Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats, in dem sie auch wohnten,
Gebrauch mache, unterliege die Frage, ob im Aufnahmestaat das nach den
Kollisionsregeln anwendbare Recht diese Gesellschaft fortbestehen lasse,
nicht den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit.
31 Auch die italienische Regierung ist der Ansicht, dass sich aus dem
Urteil Daily Mail and General Trust ergebe, dass die Kriterien zur Feststellung
der Identität von Gesellschaften nicht von der Ausübung des in den Artikeln
43 EG und 48 EG enthaltenen Niederlassungsrechts umfasst würden, sondern
in die Regelungsbefugnis der nationalen Rechtsordnungen fielen. Folglich
könne man sich nicht auf die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit
berufen, um die Anknüpfungspunkte zu harmonisieren; deren Festlegung
falle beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ausschließlich
in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sofern für Gesellschaften
Anknüpfungspunkte zu mehreren Staaten bestünden, müsse jede nationale
Rechtsordnung festlegen, wann eine Gesellschaft ihren Regelungen unterliege.
32 Für die spanische Regierung ist es nicht mit Artikel 48 EG unvereinbar,
dass eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft
dort ihren tatsächlichen Verwaltungssitz haben muss, um in einem anderen
Mitgliedstaat als Gesellschaft angesehen zu werden, die das Niederlassungsrecht
ausüben kann.
33 Artikel 48 Absatz 1 EG stelle zwei Voraussetzungen dafür auf, dass
die in Absatz 2 dieses Artikels definierten Gesellschaften in gleicher
Weise wie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten das Niederlassungsrecht
ausüben könnten; sie müssen zum einen nach den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats gegründet worden sein und zum anderen ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der
Gemeinschaft haben. Die zweite Voraussetzung sei durch das am 18. Dezember
1961 in Brüssel beschlossene Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen
der Niederlassungsfreiheit (ABl. 1962, Nr. 2, S. 36, im Folgenden: "Allgemeines
Programm") geändert worden.
34 Das Allgemeine Programm bestimme in seinem Abschnitt I "Begünstigte":
"durch die ... Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
[werden] begünstigt:
...
- die Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats
... gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung
oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft oder in einem
überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben,
im Hinblick auf die tatsächliche Niederlassung zur Ausübung einer selbständigen
Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats;
...
- die oben genannten Gesellschaften; sollten diese Gesellschaften indessen
nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Gemeinschaft oder in einem
überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben, so muss ihre Tätigkeit
in tatsächlicher und dauerhafter Verbindung mit der Wirtschaft eines
Mitgliedstaats oder eines überseeischen Landes oder Hoheitsgebiets stehen;
diese Verbindung darf aber nicht von der Staatsangehörigkeit ... abhängig
gemacht werden;
im Hinblick auf die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder
Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats."
35 Auch wenn das Allgemeine Programm die Anwendung des Kriteriums der
tatsächlichen und dauerhaften Verbindung nur dazu vorsehe, von der Freiheit,
eine Zweitniederlassung zu gründen, Gebrauch zu machen, so müsse ein
solches Kriterium auch für die Hauptniederlassung gelten, damit die
für die Ausübung des Niederlassungsrechts aufgestellten Anknüpfungsvoraussetzungen
homogen seien.
36 Nach Ansicht von Überseering, der niederländischen Regierung und
der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission und der
EFTA-Überwachungsbehörde verstößt es gegen Artikel 43 EG in Verbindung
mit Artikel 48 EG, wenn im Fall einer nach dem Recht eines ersten Mitgliedstaats
wirksam gegründeten Gesellschaft, von der nach dem Recht eines zweiten
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen zweiten Mitgliedstaat verlegt hat, die dort geltenden Kollisionsregeln
vorsehen, dass die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit dieser Gesellschaft
nach dem Recht dieses Staates zu beurteilen sind. Dies sei der Fall,
wenn nach dem Recht des zweiten Mitgliedstaats dieser Gesellschaft die
Möglichkeit vorenthalten werde, Rechte aus einem Vertrag mit einer in
diesem Staat ansässigen Gesellschaft gerichtlich geltend zu machen.
Sie tragen hierfür Folgendes vor.
37 Erstens macht die Kommission geltend, nach dem Wortlaut des Artikels
293 EG sei die Einleitung von Verhandlungen zur Beseitigung der Unterschiede
zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Anerkennung ausländischer
Gesellschaften nur "soweit erforderlich" vorgesehen. Hätte im Jahr 1968
eine einschlägige Rechtsprechung bestanden, wäre es nicht erforderlich
gewesen, von Artikel 293 EG Gebrauch zu machen. Dies erkläre die entscheidende
Bedeutung, die heute der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes
für die Ermittlung des Inhalts und der Tragweite der in den Artikeln
43 EG und 48 EG verankerten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften
zukomme.
38 Zweitens vertreten Überseering, die Regierung des Vereinigten Königreichs,
die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde die Ansicht, dass das
Urteil Daily Mail and General Trust in der vorliegenden Rechtssache
nicht einschlägig sei.
39 Wie sich aus dem diesem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe,
sei zu prüfen gewesen, welche Rechtsfolgen im Mitgliedstaat der Gründung
einer Gesellschaft die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
dieser Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat habe, so dass dieses
Urteil nicht als Grundlage für die Prüfung der Frage dienen könne, welche
Rechtsfolgen eine solche Verlegung im Aufnahmemitgliedstaat habe.
40 Das Urteil Daily Mail and General Trust gelte nur für die Beziehung
zwischen dem Gründungsmitgliedstaat und der Gesellschaft, die diesen
Staat unter Wahrung der Rechtspersönlichkeit verlassen möchte, die ihr
nach dem Recht dieses Staates zuerkannt worden sei. Da Gesellschaften
Schöpfungen des nationalen Rechts seien, müssten sie weiterhin die nach
dem Recht ihres Gründungsstaats bestehenden Anforderungen beachten.
Das Urteil Daily Mail and General Trust erkenne somit das Recht des
Mitgliedstaats der Gründung einer Gesellschaft an, nach seinem internationalen
Privatrecht die Gründung und die rechtliche Existenz von Gesellschaften
zu regeln. Es entscheide dagegen nicht die Frage, ob eine nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von einem anderen Mitgliedstaat
anerkannt werden müsse.
41 Drittens ist nach Ansicht von Überseering, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde für die
Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage nicht
auf das Urteil Daily Mail and General Trust, sondern auf das Urteil
Centros abzustellen. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Ausgangsrechtsstreit
sei es nämlich wie in der vorliegenden Rechtssache darum gegangen, wie
im Aufnahmemitgliedstaat eine Gesellschaft behandelt werde, die nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaaten gegründet worden sei und ihr
Niederlassungsrecht ausübe.
42 Die Rechtssache Centros betreffe die Zweitniederlassung einer Gesellschaft,
der Centros Ltd, in Dänemark als Aufnahmemitgliedstaat, die wirksam
im Vereinigten Königreich gegründet worden sei, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren satzungsmäßigen Sitz gehabt habe, ohne dort eine wirtschaftliche
Tätigkeit auszuüben. Die Centros Ltd habe in Dänemark eine Zweigniederlassung
gründen wollen, um dort den wesentlichen Teil ihrer wirtschaftlichen
Tätigkeiten auszuüben. Die dänischen Behörden hätten die Existenz dieser
Gesellschaft nach englischem Recht nicht in Zweifel gezogen, ihr aber
das Recht, in Dänemark durch Gründung einer Zweigniederlassung von ihrer
Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, verweigert, da festgestanden
habe, dass über diese Form der Zweitniederlassung die Anwendung der
dänischen Vorschriften über die Gründung von Gesellschaften, u. a. in
Bezug auf die Einzahlung eines Mindestkapitals, hätten umgangen werden
sollen.
43 Im Urteil Centros habe der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat
(der Aufnahmestaat) hinnehmen müsse, dass eine wirksam in einem anderen
Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft, die dort ihren satzungsmäßigen
Sitz habe, in seinem Hoheitsgebiet eine weitere Niederlassung eintragen
lasse (im gegebenen Fall eine Zweigniederlassung), von der aus sie ihre
gesamte Tätigkeit entfalten könne. Deswegen könne der Aufnahmemitgliedstaat
einer wirksam in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft
nicht sein eigenes materielles Gesellschaftsrecht, insbesondere die
Vorschriften über das Gesellschaftskapital, entgegenhalten. Nach Ansicht
der Kommission muss es sich ebenso verhalten, wenn sich der Aufnahmemitgliedstaat
auf sein internationales Gesellschaftsrecht beruft.
44 Nach Auffassung der niederländischen Regierung stehen die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht der Anwendung
der Sitztheorie als solcher entgegen. Dagegen stellten die Folgen, die
das deutsche Recht an das knüpften, was es als Verlegung des Sitzes
einer Gesellschaft nach Deutschland betrachte, die im Übrigen ihre Rechtspersönlichkeit
aufgrund ihrer Gründung in einem anderen Mitgliedstaat besitze, eine
Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, wenn sie dazu führten,
dass die Rechtspersönlichkeit dieser Gesellschaft nicht anerkannt werde.
45 Im EG-Vertrag stünden die drei Anknüpfungspunkte satzungsmäßiger
Sitz, tatsächlicher Verwaltungssitz (Hauptverwaltung) und Hauptniederlassung
auf gleicher Stufe. Im Vertrag finde sich kein Hinweis, dass der satzungsmäßige
Sitz und die Hauptverwaltung in ein und demselben Mitgliedstaat liegen
müssten, damit von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht werden
könne. Folglich stehe das Niederlassungsrecht auch einer Gesellschaft
zu, deren tatsächlicher Verwaltungssitz sich nicht mehr im Staat der
Gründung dieser Gesellschaft befinde. Es verstoße daher gegen die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, wenn sich ein Mitgliedstaat
weigere, die Rechtsfähigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die in seinem Hoheitsgebiet von
ihrer Freiheit der Zweitniederlassung Gebrauch mache.
46 Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, die im Ausgangsverfahren
in Rede stehenden deutschen Regeln verstießen gegen die Artikel 43 EG
und 48 EG, da sie bewirkten, dass eine Gesellschaft wie Überseering
daran gehindert werde, ihre Tätigkeiten über eine Agentur oder eine
Zweigniederlassung in Deutschland auszuüben, wenn diese Agentur oder
diese Zweigniederlassung nach deutschem Recht als tatsächlicher Verwaltungssitz
der Gesellschaft betrachtet werde, denn sie führten zum Verlust der
Rechtsfähigkeit, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren könne.
47 Die EFTA-Überwachungsbehörde weist ergänzend darauf hin, dass die
Niederlassungsfreiheit nicht nur das Recht auf Zweitniederlassung in
einem anderen Mitgliedstaat umfasse, sondern für eine Gesellschaft,
die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat
verlege, auch das Recht, ihre ursprüngliche Niederlassung in dem Mitgliedstaat
beizubehalten, in dem sie gegründet worden sei. Die deutschen Regeln,
die im Ausgangsfall maßgeblich seien, würden bewirken, dass die Niederlassungsfreiheit
in eine Niederlassungspflicht verwandelt würde, damit die Rechtsfähigkeit
der Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit erhalten werde. Sie
stellten daher eine Beschränkung der im EG-Vertrag vorgesehenen Niederlassungsfreiheit
dar. Dieses Ergebnis bedeute nicht, dass die Mitgliedstaaten keinen
Anknüpfungspunkt zwischen einer Gesellschaft und ihrem Hoheitsgebiet
schaffen dürften; bei Ausübung dieser Befugnisse müssten sie aber den
EG-Vertrag beachten.
48 Die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs
und die EFTA-Überwachungsbehörde heben außerdem den Umstand hervor,
dass Überseering ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Sinne des deutschen
Rechts nicht nach Deutschland habe verlegen wollen. Überseering trägt
vor, dass sie sich nicht in den Niederlanden habe auflösen wollen, um
sich in Deutschland neu zu gründen, und dass sie weiterhin als Gesellschaft
mit beschränkter Haftung nach niederländischem Recht (BV) existieren
wolle. Es sei außerdem widersprüchlich, dass das deutsche Recht sie
als solche betrachte, wenn es darum gehe, sie zur Zahlung von Architektenhonoraren
zu verurteilen.
49 Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend
gemacht, dass es sich nach niederländischem Recht in einer Situation
wie im Ausgangsverfahren um die Gründung einer Zweigniederlassung, also
einer Zweitniederlassung, handele. Es sei falsch, bei der Prüfung der
vorliegenden Rechtssache von der Prämisse auszugehen, dass es aufgrund
der bloßen Abtretung der Geschäftsanteile an in Deutschland wohnende
deutsche Staatsangehörige zu einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
von Überseering nach Deutschland gekommen sei. Eine solche Analyse sei
nämlich eine solche des deutschen Privatrechts. Nichts deute darauf
hin, dass Überseering die Absicht gehabt habe, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
nach Deutschland zu verlegen. Wenn so argumentiert werde, als handele
es sich um eine Hauptniederlassung, ziele dies darauf ab, dem Urteil
Centros, in dem es um die sekundäre Form der Niederlassung gegangen
sei, die sich aus der Gründung einer Zweigniederlassung ergebe, seine
Bedeutung zu nehmen und zu versuchen, die vorliegende Rechtssache mit
der Rechtssache Daily Mail and General Trust gleichzusetzen.
50 Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist darauf hin, dass
Überseering in den Niederlanden wirksam gegründet worden sei, immer
im Handelsregister von Amsterdam und Haarlem als Gesellschaft niederländischen
Rechts eingetragen gewesen sei und nicht versucht habe, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen. Sie habe lediglich aufgrund
einer Eigentumsübertragung seit 1994 den Großteil ihrer Tätigkeiten
in Deutschland ausgeübt und dort bestimmte Versammlungen abgehalten.
Sie müsse in der Praxis also so angesehen werden, als habe sie in Deutschland
über eine Agentur oder Zweigniederlassung gehandelt. Diese Sachlage
unterscheide sich grundlegend von derjenigen, die der Rechtssache Daily
Mail and General Trust zugrunde gelegen habe, in der es um einen bewussten
Versuch gegangen sei, den Sitz einer Gesellschaft englischen Rechts
und die Kontrolle über die Gesellschaft aus dem Vereinigten Königreich
in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei zwar den Status
einer im Vereinigten Königreich wirksam gegründeten Gesellschaft beizubehalten,
aber nicht den steuerlichen Anforderungen unterworfen zu sein, die im
Vereinigten Königreich mit der Verlegung der Verwaltung einer Gesellschaft
und der Kontrolle über sie ins Ausland verbunden seien.
51 Nach Auffassung der EFTA-Überwachungsbehörde zeigt sich darin, dass
Überseering aufgrund der offenbar ungebetenen Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort ihre Parteifähigkeit abgesprochen
werde, die Unsicherheit, die die Anwendung der unterschiedlichen internationalen
Privatrechte der Mitgliedstaaten für grenzüberschreitende Geschäfte
mit sich bringen kann. Da die Bestimmung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
weitgehend auf der Grundlage von Tatsachen erfolge, sei es immer möglich,
dass unterschiedliche nationale Rechtssysteme, und in diesen sogar verschiedene
Gerichte, unterschiedlich beurteilten, was einen tatsächlichen Verwaltungssitz
darstelle. Außerdem werde es immer schwieriger, den tatsächlichen Verwaltungssitz
in einer globalisierten und computerbeherrschten Wirtschaft zu bestimmen,
in der die persönliche Anwesenheit der Entscheidungsträger immer weniger
erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit
52 Vorab ist entgegen der Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen
und der italienischen Regierung klarzustellen, dass im Fall einer Gesellschaft,
die wirksam in einem ersten Mitgliedstaat gegründet worden ist, dort
ihren satzungsmäßigen Sitz hat und von der nach dem Recht eines zweiten
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie nach der Abtretung aller ihrer
Geschäftsanteile an Staatsangehörige dieses Staates, in dem diese auch
wohnen, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, die
Regeln, die der zweite Mitgliedstaat auf diese Gesellschaft anwendet,
beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht aus dem Anwendungsbereich
der Gemeinschaftsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit fallen.
53 Insoweit ist erstens das auf Artikel 293 EG gestützte Vorbringen
von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen Regierung
zurückzuweisen.
54 Wie der Generalanwalt in Nummer 42 seiner Schlussanträge ausführt,
stellt Artikel 293 EG nämlich keinen Rechtsetzungsvorbehalt zugunsten
der Mitgliedstaaten dar. Diese Vorschrift fordert die Mitgliedstaaten
zwar auf, Verhandlungen einzuleiten, u. a. um die Lösung der Probleme
zu erleichtern, die sich aus der Unterschiedlichkeit der Rechtsvorschriften
über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und über die Aufrechterhaltung
ihrer Rechtspersönlichkeit bei grenzüberschreitender Sitzverlegung ergeben,
dies aber nur, "soweit erforderlich", also für den Fall, dass die Bestimmungen
des EG-Vertrags nicht die Erreichung der Vertragsziele ermöglichen.
55 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Übereinkünfte,
zu deren Abschluss Artikel 293 EG anregt, genau wie die in Artikel 44
EG vorgesehenen Harmonisierungsrichtlinien die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit
erleichtern können, das Gebrauchmachen von dieser Freiheit aber nicht
vom Abschluss solcher Übereinkünfte abhängen kann.
56 Wie der Gerichtshof bereits bei anderer Gelegenheit ausgeführt hat,
umfasst die Niederlassungsfreiheit, die Artikel 43 EG den Gemeinschaftsangehörigen
zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten
sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit
nach den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene
Angehörigen gelten. Außerdem stehen nach dem Wortlaut des Artikels 48
EG für "die Anwendung [der Bestimmungen des EG-Vertrags über das Niederlassungsrecht]
die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften,
die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung
innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleich, die
Angehörige der Mitgliedstaaten sind".
57 Hieraus folgt unmittelbar, dass diese Gesellschaften das Recht haben,
ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie
die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit
zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen.
58 Auf diese Prämissen hat der Gerichtshof seine Erwägungen im Urteil
Centros (Randnrn. 19 und 20) gestützt.
59 Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit setzt zwingend die
Anerkennung dieser Gesellschaften durch alle Mitgliedstaaten voraus,
in denen sie sich niederlassen wollen.
60 Es ist daher nicht erforderlich, dass die Mitgliedstaaten eine Übereinkunft
über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften schließen, damit
die Gesellschaften, die die in Artikel 48 EG genannten Voraussetzungen
erfüllen, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen können, die
ihnen in den seit Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbaren Artikeln
43 EG und 48 EG zuerkannt wird. Folglich kann kein Rechtfertigungsgrund
für eine Beschränkung der vollen Wirksamkeit dieser Artikel daraus hergeleitet
werden, dass bis heute keine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung
von Gesellschaften auf der Grundlage des Artikels 293 EG geschlossen
worden ist.
61 Zweitens ist das Vorbringen zu prüfen, das sich auf das Urteil Daily
Mail and General Trust, das im Mittelpunkt der Erörterungen vor dem
Gerichtshof gestanden hat, stützt. Dieses Vorbringen ist insoweit zu
prüfen, als es darauf gerichtet ist, der dem Urteil Daily Mail and General
Trust zugrunde liegenden Situation in gewisser Weise die Sachlage gleichzusetzen,
aus der das deutsche Recht den Verlust der Rechtsfähigkeit und den Verlust
der Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
gegründeten Gesellschaft ableitet.
62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Daily Mail and General
Trust die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und einem Mitgliedstaat,
nach dessen Recht sie gegründet worden ist, in dem Fall betrifft, in
dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter Wahrung
der ihr in ihrem Gründungsstaat zuerkannten Rechtspersönlichkeit in
einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollte. Hingegen handelt es sich
im Ausgangsrechtsstreit um die Anerkennung einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft durch einen anderen Mitgliedstaat;
dabei wird einer solchen Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
abgesprochen, da er davon ausgeht, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in sein Hoheitsgebiet verlegt hat, ohne dass es hierfür darauf ankäme,
ob die Gesellschaft tatsächlich eine Sitzverlegung vornehmen wollte.
63 Wie sowohl die niederländische Regierung und die Regierung des Vereinigten
Königreichs als auch die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde
geltend machen, hat Überseering nie die Absicht bekundet, ihren Sitz
nach Deutschland zu verlegen. Ihre rechtliche Existenz ist nach dem
Recht ihres Gründungsstaats durch die Abtretung ihrer sämtlichen Geschäftsanteile
an in Deutschland wohnende Personen nie in Frage gestellt worden. Insbesondere
ist sie nicht Gegenstand von Auflösungsmaßnahmen nach niederländischem
Recht gewesen, nach dem sie nie aufgehört hat, wirksam zu bestehen.
64 Selbst wenn man den Ausgangsrechtsstreit so verstünde, als ginge
es um die grenzüberschreitende Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes,
ist daher die von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen
Regierung vertretene Auslegung des Urteils Daily Mail and General Trust
unzutreffend.
65 In der Rechtssache, in der dieses Urteil erging, wollte die Daily
Mail and General Trust PLC, eine nach dem Recht des Vereinigten Königreich
gegründete Gesellschaft, die dort sowohl ihren satzungsmäßigen Sitz
als auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hatte, Letzteren in einen
anderen Mitgliedstaat verlegen, ohne ihre Rechtspersönlichkeit oder
ihre Eigenschaft als Gesellschaft englischen Rechts zu verlieren; die
dafür erforderliche Genehmigung der zuständigen britischen Behörden
wurde ihr verweigert. Sie verklagte diese Behörden daher beim High Court
of Justice, Queen's Bench Division (Vereinigtes Königreich), und machte
geltend, dass die Artikel 52 und 58 des EWG-Vertrags ihr das Recht zuerkennen
würden, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ohne vorherige Genehmigung
und ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit in einen anderen Mitgliedstaat
zu verlegen.
66 Anders als im Ausgangsverfahren ging es somit in der Rechtssache,
in der das Urteil Daily Mail and General Trust erging, nicht darum,
wie ein Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründete
Gesellschaft zu behandeln hat, die im ersten Mitgliedstaat von ihrer
Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht.
67 Im Zusammenhang mit der Frage des High Court of Justice, ob die Bestimmungen
des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft das
Recht zuerkennen, ihre Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat
zu verlegen, erinnert der Gerichtshof in Randnummer 19 des Urteils Daily
Mail and General Trust daran, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung
gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre
Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
68 In Randnummer 20 dieses Urteils unterstreicht der Gerichtshof die
Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich dessen,
was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen
Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach
einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich
zu ändern.
69 In Randnummer 23 dieses Urteils kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis,
dass der EG-Vertrag diese Unterschiede als Probleme betrachtet, die
durch die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit
nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder
des Vertragsschlusses bedürfen; eine solche war jedoch noch nicht gefunden
worden.
70 Dabei hat sich der Gerichtshof darauf beschränkt, festzustellen,
dass sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründete Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die
ihr durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit
zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach
den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft
gegründet worden ist. Er zog daraus den Schluss, dass ein Mitgliedstaat
die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft
Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes
aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht
dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann.
71 Der Gerichtshof hat sich dagegen nicht zu der Frage geäußert, ob
in einem Fall wie im Ausgangsverfahren, in dem von einer nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen verlegt hat, dieser andere Mitgliedstaat sich weigern darf,
die Rechtspersönlichkeit anzuerkennen, die ihr nach der Rechtsordnung
ihres Gründungsstaats zuerkannt wird.
72 Ungeachtet des allgemein gehaltenen Wortlauts der Randnummer 23 des
Urteils Daily Mail and General Trust wollte der Gerichtshof den Mitgliedstaaten
nicht die Möglichkeit einräumen, die tatsächliche Inanspruchnahme der
Niederlassungsfreiheit in ihrem Hoheitsgebiet durch in anderen Mitgliedstaaten
wirksam gegründete Gesellschaften, von denen sie annehmen, dass sie
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in ihr Hoheitsgebiet verlegt haben,
von der Beachtung ihres nationalen Gesellschaftsrechts abhängig zu machen.
73 Dem Urteil Daily Mail and General Trust kann daher nicht entnommen
werden, dass in dem Fall, dass eine Gesellschaft, die nach dem Recht
eines Mitgliedstaats gegründet worden ist und der dort Rechtspersönlichkeit
zuerkannt wird, von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat
Gebrauch macht, die Frage der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit und
ihrer Parteifähigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung nicht den Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit unterliegt. Dies gilt
selbst dann, wenn von dieser Gesellschaft nach dem Recht des Mitgliedstaats
der Niederlassung angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
dorthin verlegt hat.
74 Drittens ist das Vorbringen der spanischen Regierung zurückzuweisen,
in einer Situation wie im Ausgangsverfahren mache das Allgemeine Programm
in seinem Titel I die Inanspruchnahme der durch den EG-Vertrag garantierten
Niederlassungsfreiheit vom Bestehen einer tatsächlichen und dauerhaften
Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaats abhängig.
75 Wie sich nämlich aus dem Wortlaut des Allgemeinen Programms ergibt,
verlangt dieses eine tatsächliche und dauerhafte Verbindung allein für
den Fall, dass die Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb
der Gemeinschaft hat. Bei Überseering, die sowohl ihren satzungsmäßigen
Sitz als auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz innerhalb der Gemeinschaft
hat, verhält es sich unbestreitbar nicht so. Der Gerichtshof hat für
diese Fallkonstellation in Randnummer 19 des Urteils Centros festgestellt,
dass Artikel 58 EG-Vertrag die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung
oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen
Personen gleichstellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
76 Nach alledem beruft sich Überseering zu Recht auf die Niederlassungsfreiheit,
um sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass das deutsche Recht sie nicht
als parteifähige juristische Person ansieht.
77 Ferner ist daran zu erinnern, dass der Erwerb von Geschäftsanteilen
an einer in einem Mitgliedstaat gegründeten und ansässigen Gesellschaft
durch eine oder mehrere natürliche Personen mit Wohnort in einem anderen
Mitgliedstaat grundsätzlich den Bestimmungen des EG-Vertrags über den
freien Kapitalverkehr unterliegt, wenn eine solche Beteiligung ihnen
nicht einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft
verleiht und sie deren Tätigkeiten nicht bestimmen können. Wenn dagegen
der Erwerb sämtliche Geschäftsanteile einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem
Sitz in einem anderen Mitgliedstaat umfasst und eine solche Beteiligung
einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht
und es diesen Personen ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen, sind
die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit anwendbar
(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-251/98,
Baars, Slg. 2000, I-2787, Randnrn. 21 und 22).
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
78 Sodann ist zu prüfen, ob die Weigerung der deutschen Gerichte, einer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft
die Rechts- und Parteifähigkeit zuzuerkennen, eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit darstellt.
79 In einer Situation wie im Ausgangsverfahren hat eine Gesellschaft,
die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik
Deutschland wirksam gegründet worden ist und in diesem anderen Mitgliedstaat
ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nach deutschem Recht keine andere Wahl,
als sich in Deutschland neu zu gründen, wenn sie vor einem deutschen
Gericht Ansprüche aus einem Vertrag mit einer Gesellschaft deutschen
Rechts geltend machen möchte.
80 Überseering, die in den Niederlanden wirksam gegründet worden ist
und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, genießt aufgrund der Artikel
43 EG und 48 EG das Recht, als Gesellschaft niederländischen Rechts
in Deutschland von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen.
Insoweit ist es unbeachtlich, dass nach der Gründung dieser Gesellschaft
deren gesamtes Kapital von in Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen
erworben wurde, denn dieser Umstand hat offenbar nicht zum Verlust der
Rechtspersönlichkeit geführt, die ihr die niederländische Rechtsordnung
zuerkennt.
81 Ihre Existenz hängt sogar untrennbar mit ihrer Eigenschaft als Gesellschaft
niederländischen Rechts zusammen, da eine Gesellschaft, wie bereits
ausgeführt wurde, jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung
und ihre Existenz regelt, keine Realität hat (in diesem Sinne Urteil
Daily Mail and General Trust, Randnr. 19). Das Erfordernis, dieselbe
Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, kommt daher der Negierung
der Niederlassungsfreiheit gleich.
82 Unter diesen Umständen stellt es eine mit den Artikeln 43 EG und
48 EG grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
dar, wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit
einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen,
weil die Gesellschaft im Anschluss an den Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile
durch in seinem Hoheitsgebiet wohnende eigene Staatsangehörigen, ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll,
mit der Folge, dass die Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat nicht
zu dem Zweck parteifähig ist, ihre Ansprüche aus einem Vertrag geltend
zu machen, es sei denn, dass sie sich nach dem Recht dieses Aufnahmestaats
neu gründet.
Zur eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
83 Schließlich ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
durch die sowohl vom vorlegenden Gericht als auch von der deutschen
Regierung angeführten Gründe gerechtfertigt sein kann.
84 Die deutsche Regierung macht hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof
die Anwendung der Sitztheorie als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
ansehen sollte, geltend, dass diese Beschränkung ohne Diskriminierung
angewandt werde, durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt
sei und in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehe.
85 Der nicht diskriminierende Charakter ergebe sich daraus, dass die
sich aus der Sitztheorie ergebenden Rechtsregeln nicht nur für ausländische
Gesellschaften gelten würden, die sich durch Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort niederließen, sondern auch für
Gesellschaften deutschen Rechts, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
aus Deutschland heraus verlegten.
86 Zu den zwingenden Gründen des Gemeinwohls, die zur Rechtfertigung
der angeblichen Beschränkung angeführt würden, sei zu bemerken, dass
das abgeleitete Gemeinschaftsrecht in anderen Bereichen voraussetze,
dass der Verwaltungssitz und der satzungsmäßige Sitz identisch seien.
Das Gemeinschaftsrecht habe somit grundsätzlich anerkannt, dass die
Einheit von satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz berechtigt sei.
87 Die Regeln des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts dienten
der Rechtssicherheit und dem Gläubigerschutz. Auf Gemeinschaftsebene
seien die Modalitäten des Schutzes des Gesellschaftskapitals von Gesellschaften
mit beschränkter Haftung nicht harmonisiert, und diese Gesellschaften
unterlägen in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland
zum Teil wesentlich geringeren Anforderungen. Die im deutschen Recht
angewandte Sitztheorie stelle in diesem Zusammenhang sicher, dass eine
Gesellschaft, deren Tätigkeitsschwerpunkt im Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland liege, mit einem bestimmten Mindestkapital ausgestattet
sei, was zur Sicherung ihrer Vertragspartner und Gläubiger beitrage.
Außerdem würden damit Wettbewerbsverzerrungen verhindert, da alle schwerpunktmäßig
in Deutschland tätigen Gesellschaften gleichen rechtlichen Rahmenbedingung
unterworfen würden.
88 Eine weitere Rechtfertigung stelle der Schutz der Minderheitsgesellschafter
dar. Mangels eines Gemeinschaftsstandards für diesen Schutz müsse es
einem Mitgliedstaat möglich sein, bei allen Gesellschaften, deren Tätigkeitsschwerpunkt
in seinem Hoheitsgebiet liege, die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen
für den Schutz von Minderheitsgesellschaftern durchzusetzen.
89 Auch der Arbeitnehmerschutz durch die Mitbestimmung im Unternehmen
gemäß den gesetzlich festgelegten Bedingungen rechtfertige die Anwendung
der Sitztheorie. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft
nach Deutschland könnte, wenn die Gesellschaft ihre Eigenschaft als
Gesellschaft dieses Rechts bewahren würde, die Gefahr einer Umgehung
der deutschen Mitbestimmungsvorschriften mit sich bringen, die es den
Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichten, im Aufsichtsrat
der Gesellschaft vertreten zu sein. Ein solches Organ gebe es bei den
Gesellschaften der anderen Mitgliedstaaten nicht immer.
90 Schließlich rechtfertigten die Fiskalinteressen die Beschränkung,
die sich eventuell aus der Anwendung der Sitztheorie ergebe. Die Gründungstheorie
ermögliche in größerem Umfang als die Sitztheorie die Gründung von Gesellschaften
mit doppelter Ansässigkeit, die deshalb in zwei oder mehr Mitgliedstaaten
unbeschränkt steuerpflichtig seien. Bei solchen Gesellschaften bestehe
die Gefahr, dass sie in mehreren Mitgliedstaten parallel Steuervorteile
beanspruchten und erlangten. Als Beispiel sei die grenzüberschreitende
Verrechnung von Verlusten auf Gewinne zwischen verbundenen Unternehmen
zu nennen.
91 Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Regierung des
Vereinigten Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde
ist die fragliche Beschränkung nicht gerechtfertigt. Das Ziel des Gläubigerschutzes
sei auch von den dänischen Behörden in der Rechtssache Centros angeführt
worden, um die Weigerung zu rechtfertigen, in Dänemark die Zweigniederlassung
einer Gesellschaft einzutragen, die im Vereinigten Königreich wirksam
gegründet worden sei und deren sämtliche Tätigkeiten in Dänemark hätten
ausgeübt werden sollen, ohne die Anforderungen des dänischen Rechts
in Bezug auf die Gründung und die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals
zu erfüllen. Es sei außerdem zweifelhaft, dass die Anforderungen hinsichtlich
eines Mindestgesellschaftskapitals ein wirksames Mittel zum Schutz von
Gläubigern darstellten.
92 Es lässt sich nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls,
wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter,
der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter bestimmten Umständen und
unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
rechtfertigen können.
93 Solche Ziele können es jedoch nicht rechtfertigen, dass einer Gesellschaft,
die in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß gegründet worden ist
und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit und damit
die Parteifähigkeit abgesprochen wird. Eine solche Maßnahme kommt nämlich
der Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG und 48 EG
zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich.
94 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass es gegen die Artikel
43 EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht
des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und
damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen
von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen
Gesellschaft abgesprochen wird.
Zur zweiten Vorlagefrage
95 Aus der Antwort auf die erste Vorlagefrage folgt, dass in dem Fall,
dass eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat,
in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch
macht, dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG
verpflichtet ist, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit
zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats
besitzt.
Kostenentscheidung
Kosten
96 Die Auslagen der deutschen, der spanischen, der italienischen und
der niederländischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs
sowie der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien
des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung
ist daher Sache dieses Gerichts.
Urteilstenor
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. März 2000 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer Gesellschaft,
die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren
satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das
Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat
ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.
2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat,
in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch,
so ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG
verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten,
die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.